27
Die Hymne dröhnt in meinen Ohren, dann höre ich, wie Caesar Flickerman die Zuschauer begrüßt. Ob er weiß, wie wichtig es ist, von jetzt an jedes Wort richtig zu wählen? Bestimmt. Ganz sicher wird er uns helfen wollen. Die Menge applaudiert, als die Vorbereitungsteams präsentiert werden. Ich stelle mir vor, wie Flavius, Venia und Octavia herumspringen und lächerliche Verbeugungen machen. Todsicher haben sie keine Ahnung. Dann hat Effie ihren Auftritt. Wie lange hat sie wohl auf diesen Augenblick gewartet? Ich hoffe, sie kann ihn genießen, denn so töricht Effie sein kann, für bestimmte Dinge hat sie einen sicheren Instinkt; sie muss zumindest einen Verdacht haben, dass wir in Schwierigkeiten sind. Portia und Cinna ernten riesigen Jubel - verdientermaßen, denn sie waren genial, ein umwerfendes Debüt. Jetzt verstehe ich, warum Cinna sich für dieses Kleid entschieden hat. Ich soll so mädchenhaft und unschuldig wie möglich wirken. Als Haymitch erscheint, bricht ein Getrampel los, das mindestens fünf Minuten anhält. Immerhin hat er eine Premiere vorzuweisen. Er hat nicht nur einen, sondern zwei Tribute durchgebracht. Was wäre, wenn er mich nicht rechtzeitig gewarnt hätte? Würde ich mich anders verhalten? Die Sache mit den Beeren an die große Glocke hängen, auf Kosten des Kapitols? Nein, ich glaube nicht. Aber gut möglich, dass ich längst nicht so überzeugend wäre, wie ich jetzt sein muss. Jetzt und hier. Denn in diesem Augenblick hebt mich die Scheibe auf die Bühne.
Blendendes Licht. Bei dem ohrenbetäubenden Gebrüll wackelt die Scheibe unter meinen Füßen. Plötzlich ist da Peeta, nur ein paar Meter entfernt. Er sieht so sauber und gesund und schön aus, dass ich ihn fast nicht wiedererkenne. Aber sein Lächeln ist das gleiche, ob im Schlamm oder im Kapitol, und als ich es sehe, stürme ich auf ihn zu und werfe mich ihm in die Arme. Er schwankt rückwärts und verliert fast das Gleichgewicht und da erst fällt mir auf, dass die schlanke Metallvorrichtung in seiner Hand ein Gehstock ist. Er richtet sich auf und wir schmiegen uns aneinander, während die Zuschauer ausflippen. Er küsst mich und die ganze Zeit denke ich: Weißt du Bescheid? Weißt du, in welcher Gefahr wir schweben? Zehn Minuten geht das so, dann tippt Caesar Flickerman ihm auf die Schulter, um die Show fortzusetzen, aber Peeta schiebt ihn einfach nur weg, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die Menge rastet aus. Ob bewusst oder nicht, Peeta gibt ihr wieder einmal genau das, was sie will.
Schließlich trennt Haymitch uns und schiebt uns gutmütig zum Siegerstuhl. Normalerweise ist das ein einziger, verschnörkelter Sessel, auf dem der siegreiche Tribut sitzt und einen Film mit den Höhepunkten der Spiele anschaut, aber da es diesmal zwei Sieger gibt, haben die Spielmacher stattdessen ein rotes Plüschsofa hingestellt. Es ist klein, ein Zweisitzer. Ich sitze ganz nah bei Peeta, fast auf seinem Schoß, aber ein Blick von Haymitch sagt mir, dass das nicht genug ist. Ich kicke meine Sandalen weg, ziehe die Füße hoch und lehne den Kopf an Peetas Schulter. Automatisch legt er den Arm um mich und ich komme mir wieder vor wie in der Höhle, an ihn geschmiegt, um warm zu bleiben. Sein Hemd ist aus dem gleichen gelben Stoff wie mein Kleid, allerdings hat Portia ihn in eine lange schwarze Hose gesteckt. Und statt Sandalen trägt er ein Paar robuste schwarze Stiefel, mit denen er fest auf dem Boden steht. Hätte Cinna mich auch mal so angezogen, dann käme ich mir nicht so verletzlich vor wie in diesem leichten Kleid. Aber wahrscheinlich ging es genau darum.
Caesar Flickerman macht noch ein paar Gags, dann ist es Zeit für die Show. Sie wird genau drei Stunden dauern und ganz Panem muss zuschauen. Als die Lichter ausgehen und das Wappen auf dem Bildschirm erscheint, wird mir klar, dass ich auf das, was nun kommt, nicht vorbereitet bin. Ich möchte nicht dabei zuschauen, wie meine zweiundzwanzig Mitstreiter sterben. Ich habe genug von ihnen schon einmal sterben sehen. Mein Herz beginnt zu klopfen und ich habe den starken Impuls, zu fliehen. Wie haben die anderen Sieger das bloß ganz allein durchgestanden? Während der Höhepunkte wird regelmäßig in einem Fenster in einer Ecke des Bildschirms die Reaktion des Siegers eingeblendet. Ich denke an die Übertragungen der vergangenen Jahre zurück ... Manche der Sieger sind triumphierend, schleudern die Faust in die Luft, schlagen sich an die Brust. Die meisten wirken wie betäubt. Mich hält nur eins auf diesem Sofa, nämlich Peeta: sein Arm um meine Schulter, während ich mit beiden Händen seine freie Hand umklammere. Natürlich sahen sich die früheren Sieger nicht einem Kapitol gegenüber, das sie zu vernichten versuchte.
Es ist eine Meisterleistung, so viele Wochen in drei Stunden zu packen, besonders wenn man bedenkt, wie viele Kameras auf einmal liefen. Derjenige, der die Höhepunkte zusammenstellt, muss sich für eine Geschichte entscheiden, die er erzählen will. In diesem Jahr wird zum ersten Mal eine Liebesgeschichte erzählt. Peeta und ich haben die Spiele zwar gewonnen, aber es ist trotzdem verblüffend, wie viel Aufmerksamkeit wir von Anfang an bekommen haben. Ich bin ganz froh darüber, weil es die Masche von dem liebestollen Mädchen stützt, mit der ich erklären will, dass ich mich dem Kapitol widersetzen musste. Außerdem hat es den Vorteil, dass wir uns nicht so lange mit den Toten aufhalten.
Die erste halbe Stunde ist den Ereignissen vor der Arena gewidmet, den Ernten, der Wagenparade durchs Kapitol, unseren Trainingsbewertungen und den Interviews. Das Ganze unterlegt mit peppiger Musik, die alles noch schrecklicher macht, weil natürlich fast alle, die auf dem Bildschirm zu sehen sind, mittlerweile tot sind.
In der Arena widmet sich die Sendung zunächst ausgiebig dem Gemetzel am Füllhorn, dann konzentrieren sich die Macher abwechselnd auf die sterbenden Tribute und auf uns. Besonders auf Peeta, denn es ist eindeutig er, der die Romanze trägt. Ich sehe jetzt, was die Zuschauer sehen konnten: wie er die Karrieros über mich täuschte, wie er die ganze Nacht unter dem Jägerwespenbaum wach lag und dann gegen Cato kämpfte, damit ich entkommen konnte, und wie er sogar noch in seinem Schlammloch im Schlaf meinen Namen flüsterte. Gegen ihn wirke ich herzlos - ich weiche Feuerbällen aus, lasse Nester herunterfallen und sprenge Vorräte in die Luft -, bis ich für Rue jagen gehe. Ihr Tod wird in voller Länge gezeigt, wie der Speer sie durchbohrte, mein vergeblicher Rettungsversuch, mein Pfeil durch den Hals des Jungen aus Distrikt 1, Rues letzte Atemzüge in meinen Armen. Und das Lied. Das ganze Lied zeigen sie, jeden einzelnen Ton. In mir fällt eine Klappe und ich bin zu benommen, um irgendetwas zu empfinden. Es ist, als würde ich Fremden bei einer anderen Ausgabe der Hungerspiele zuschauen. Trotzdem bekomme ich mit, dass die Szene fehlt, in der ich sie mit Blumen bedecke.
Klar. Selbst das riecht nach Rebellion.
Es geht weiter mit der Ankündigung, dass zwei Tribute aus demselben Distrikt überleben können; ich bin zu sehen, wie ich Peetas Namen rufe und dann die Hände vor den Mund schlage. Habe ich vorher ihm gegenüber gleichgültig gewirkt, so mache ich das jetzt mehr als wett: Ich suche und finde ihn, pflege ihn gesund, gehe zum Fest, um das Medikament zu holen, und bin sehr freigebig mit meinen Küssen. Objektiv sehe ich, dass die Mutationen und Catos Tod so grauenhaft sind wie je, aber wieder kommt es mir vor, als würde das alles Leuten widerfahren, mit denen ich nie etwas zu tun hatte.
Dann kommt die Szene mit den Beeren. Ich höre, wie die Zuschauer einander ermahnen, still zu sein, weil sie nichts verpassen wollen. Eine Woge der Dankbarkeit gegenüber den Machern der Sendung überkommt mich, weil sie ihren Film nicht mit der Verkündung unseres Sieges enden lassen, sondern mit der Szene, wie ich im Hovercraft gegen die Glastür trommele und Peetas Namen schreie, während die Ärzte ihn zu reanimieren versuchen.
Was meine Überlebenschancen betrifft, so ist das mein bester Auftritt überhaupt.
Die Hymne wird wieder eingespielt. Wir erheben uns, während Präsident Snow höchstpersönlich die Bühne betritt, gefolgt von einem kleinen Mädchen, das ein Kissen mit der Krone trägt. Es ist nur eine Krone und das verwirrt die Leute hörbar - wem wird er sie aufsetzen? -, bis Präsident Snow die Krone verdreht und in zwei Hälften teilt. Die erste legt er lächelnd Peeta um die Stirn. Als er die zweite Hälfte auf meinem Kopf platziert, lächelt er immer noch, aber seine Augen, nur ein paar Zentimeter entfernt, sind so unversöhnlich wie die einer Schlange.
In diesem Augenblick wird mir klar, dass ich, obwohl wir beide die Beeren gegessen hätten, dafür verantwortlich gemacht werde, weil es meine Idee war. Ich bin die Anstifterin. Ich gehöre bestraft.
Es folgen endlose Verbeugungen und Hochrufe. Mir fällt fast der Arm ab, so viel winke ich, als Caesar Flickerman den Zuschauern endlich eine gute Nacht wünscht und sie ermahnt, morgen wieder einzuschalten und die abschließenden Interviews anzuschauen. Als ob sie eine Wahl hätten.
Peeta und ich werden sofort zum Präsidentensitz gebracht, wo das Siegerbankett stattfindet. Zum Essen bleibt uns allerdings kaum Zeit, weil die Würdenträger des Kapitols und die besonders großzügigen Sponsoren sich gegenseitig beiseiteschieben, um mit uns aufs Foto zu kommen. Lauter strahlende Gesichter huschen vorüber, die im Laufe des Abends immer berauschter aussehen. Gelegentlich erhasche ich einen Blick auf Haymitch, der mich beruhigt, oder auf Präsident Snow, der mich in Panik versetzt, aber die ganze Zeit über lache ich und bedanke mich bei den Leuten und lächele für die Fotos. Und ich lasse Peetas Hand kein einziges Mal los.
Die Sonne guckt schon über den Horizont, als wir zurück in den zwölften Stock des Trainingscenters fahren. Jetzt kann ich endlich einmal ein Wort allein mit Peeta wechseln, denke ich, aber Haymitch schickt ihn mit Portia fort, damit sie ihn für das Interview ausstaffiert, und begleitet mich bis vor die Tür.
»Warum darf ich nicht mit ihm reden?«, frage ich.
»Dazu habt ihr alle Zeit der Welt, wenn wir zu Hause sind«, sagt Haymitch. »Geh jetzt schlafen, um zwei hast du Sendung.«
Trotz Haymitchs dauernder Einmischung bin ich entschlossen, Peeta unter vier Augen zu treffen. Nachdem ich mich ein paar Stunden lang hin und her gewälzt habe, schlüpfe ich auf den Flur hinaus. Als Erstes schaue ich auf dem Dach nach, aber da ist niemand. Nach der Feier heute Nacht liegen sogar die Straßen der Stadt weit unter mir verlassen da. Ich gehe kurz zurück ins Bett und beschließe dann, an seine Tür zu klopfen. Als ich versuche, die Klinke herunterzudrücken, stelle ich fest, dass meine Tür von außen abgeschlossen wurde. Zunächst verdächtige ich Haymitch, aber dann macht sich die heimtückische Angst breit, dass das Kapitol mich überwacht und einsperrt. Seit die Hungerspiele begonnen haben, war eine Flucht unmöglich. Doch das hier fühlt sich anders an, viel persönlicher. Als wäre ich wegen eines Verbrechens eingesperrt und wartete auf mein Urteil. Rasch gehe ich zurück ins Bett und tue so, als würde ich schlafen, bis Effie Trinket kommt und verkündet, dass ein weiterer »ganz, ganz großer Tag!« angebrochen sei.
Ich habe fünf Minuten, um eine Schale Eintopf mit Reis zu essen, bevor das Vorbereitungsteam hereinplatzt. »Die Leute waren total begeistert von euch!«, sage ich und dann brauche ich in den nächsten Stunden den Mund nicht mehr aufzumachen. Als Cinna hereinkommt, scheucht er sie raus und kleidet mich in ein weißes, hauchdünnes Kleid und rosa Schuhe. Dann kümmert er sich selbst um mein Make-up, bis ich aussehe, als würde ich zartrosa glühen. Wir reden über dies und das, aber ich habe Angst, ihn etwas wirklich Wichtiges zu fragen, denn nach dem Zwischenfall mit der Tür werde ich das Gefühl nicht los, dass ich ständig überwacht werde.
Das Interview findet im Salon am Ende des Flurs statt. Eine Fläche wurde frei geräumt, das kleine Sofa hineingestellt und mit Vasen voller roter und rosa Rosen umgeben. Nur eine Handvoll Kameras wird das Ereignis filmen. Wenigstens kein Livepublikum.
Als ich hereinkomme, umarmt Caesar Flickerman mich herzlich. »Meinen Glückwunsch, Katniss. Wie geht's uns denn heute?«
»Gut. Nervös wegen des Interviews«, sage ich.
»Brauchst du nicht. Wir werden uns prächtig unterhalten«, sagt er und tätschelt mir beruhigend die Wange.
»Ich kann nicht gut über mich selbst reden«, sage ich.
»Du kannst gar nichts Falsches sagen«, sagt er.
Und ich denke: Ach, Caesar, wenn es doch so wäre. Aber gerade jetzt, während wir uns unterhalten, könnte Präsident Snow irgendeinen »Unfall« arrangieren.
Peeta ist auch da, er sieht sehr gut aus in Rot und Weiß. Er nimmt mich beiseite. »Ich bekomme dich kaum zu sehen. Haymitch scheint darauf aus zu sein, uns voneinander fernzuhalten.«
Richtig ist, dass Haymitch darauf aus ist, uns am Leben zu halten, aber es sind zu viele Ohren um uns herum, deshalb sage ich: »Ja, in letzter Zeit nimmt er seine Verantwortung sehr ernst.«
»Was soll's, das hier noch, und dann fahren wir nach Hause. Dann kann er uns nicht mehr die ganze Zeit bewachen«, sagt Peeta.
Ein Schauer geht durch meinen Körper, aber es bleibt keine Zeit, zu ergründen, warum, denn alles ist bereit. Wir setzen uns ein wenig steif auf das kleine Sofa, doch Caesar sagt: »Na los, kuschele dich an ihn, wenn du magst. Das hat so süß ausgesehen.« Also ziehe ich die Füße hoch und Peeta drückt mich an sich.
Jemand zählt rückwärts und im Nu sind wir wieder live im ganzen Land zu sehen. Caesar Flickerman ist fantastisch, provozierend, witzig oder gerührt, je nachdem. Er und Peeta haben schon wieder den lockeren Plauderton angeschlagen, wie am Abend des ersten Interviews, deshalb lächele ich nur und versuche so wenig wie möglich zu sagen. Ein bisschen reden muss ich natürlich schon, aber sobald ich kann, überlasse ich Peeta das Wort.
Doch irgendwann beginnt Caesar Fragen zu stellen, die ausführlichere Antworten erfordern. »Peeta, von unseren Tagen in der Höhle wissen wir, dass es für dich Liebe auf den ersten Blick war, als du wie alt warst? Fünf?«, hakt Caesar nach.
»Seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe«, bestätigt Peeta.
»Aber Katniss, da hast du ja wirklich einiges mitgemacht. Das Aufregendste für die Zuschauer war es wohl, mitzuerleben, wie du ihm verfallen bist. Wann hast du gemerkt, dass du in ihn verliebt bist?«, fragt Caesar.
»Oh, das ist schwierig zu beantworten ...« Ich lache matt und starre auf meine Hände. Hilfe.
»Also, ich weiß noch, wann ich es kapiert hab. An dem Abend, als du auf dem Baum saßest und seinen Namen gerufen hast«, sagt Caesar.
Danke, Caesar!, denke ich und nehme die Vorlage an. »Ja, ich glaube, das war es. Wissen Sie, bis dahin habe ich mich, ehrlich gesagt, nicht getraut, über meine Gefühle nachzudenken. Es war alles so verwirrend, und wenn ich mir etwas aus ihm gemacht hätte, wäre es nur noch schlimmer geworden. Aber auf diesem Baum war plötzlich alles anders«, sage ich.
»Was glaubst du, wie das kam?«, hakt Caesar nach.
»Vielleicht ... weil es da zum ersten Mal ... die Chance gab, dass ich ihn behalten darf«, sage ich.
Hinter einem Kameramann sehe ich Haymitch, der erleichtert schnaubt, und da weiß ich, dass ich das Richtige gesagt habe. Caesar zieht ein Taschentuch hervor und muss eine Auszeit nehmen, so gerührt ist er. Ich spüre, wie Peeta die Stirn an meine Schläfe legt und fragt: »Und, was wirst du mit mir machen, jetzt, wo du mich hast?«
Ich wende mich ihm zu. »Dich irgendwo hinbringen, wo dir nichts passieren kann.« Und als er mich küsst, seufzen die Leute im Studio regelrecht.
Das ist für Caesar das Stichwort, um zu all den Verletzungen überzuleiten, die wir in der Arena erlitten haben, von Verbrennungen über Stiche bis hin zu Wunden. Aber erst als wir auf die Mutationen zu sprechen kommen, vergesse ich, dass wir auf Sendung sind. Als Caesar Peeta fragt, wie er mit seinem »neuen Bein« zurechtkomme.
»Neues Bein?«, sage ich und strecke unwillkürlich die Hand aus, um Peetas Hosenbein hochzuziehen. »Oh nein«, flüstere ich und starre auf die Vorrichtung aus Metall und Kunststoff, die nun sein Fleisch ersetzt.
»Hat dir das niemand gesagt?«, fragt Caesar einfühlsam. Ich schüttele den Kopf.
»Ich hatte keine Gelegenheit dazu«, sagt Peeta mit leichtem Schulterzucken.
»Das ist meine Schuld«, sage ich. »Weil ich den Druckverband gemacht habe.«
»Ja, es ist deine Schuld, dass ich am Leben bin«, sagt Peeta.
»Da hat er recht«, sagt Caesar. »Ohne den Druckverband wäre er mit Sicherheit verblutet.«
Wahrscheinlich stimmt das, aber ich bin trotzdem so geschockt, dass ich Angst habe loszuheulen. Doch da fällt mir ein, dass mir das ganze Land zusieht, deshalb vergrabe ich das Gesicht einfach in Peetas Hemd. Es dauert ein paar Minuten, bis sie mich daraus hervorlocken können, denn dort in seinem Hemd ist es viel schöner, keiner kann mich sehen, und als ich wieder auftauche, stellt Caesar mir keine weiteren Fragen, damit ich mich erholen kann. Er lässt mich in Ruhe, bis die Beeren zur Sprache kommen.
»Katniss, ich weiß, das war gerade ein Schock für dich, aber ich muss das fragen. Als du diese Beeren hervorgeholt hast. Was ging da in dir vor ... hm?«, sagt er.
Ich lasse mir ausgiebig Zeit, bevor ich antworte, und versuche, meine Gedanken zu sammeln. Das ist der Knackpunkt, an dem ich entweder das Kapitol herausgefordert habe oder vor lauter Angst, Peeta zu verlieren, so durchgedreht bin, dass ich nicht für meine Taten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Jetzt wäre eine große, dramatische Rede fällig, aber alles, was ich herausbekomme, ist ein fast unhörbarer Satz. »Ich weiß nicht, ich ... ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen ... ohne ihn zu sein.«
»Und, Peeta? Willst du noch etwas hinzufügen?«, fragt Caesar.
»Nein. Ich glaube, das gilt für uns beide«, sagt er.
Caesar macht Schluss und dann ist es vorbei. Alle lachen und weinen und umarmen sich, aber ich bin immer noch unsicher, bis ich bei Haymitch bin. »Okay?«, flüstere ich.
»Perfekt«, erwidert er.
Ich gehe zurück in mein Zimmer, um meine Siebensachen zu packen, aber ich finde nur die Brosche mit dem Spotttölpel, die Madge mir geschenkt hat. Jemand hat sie mir nach den Spielen ins Zimmer gelegt. In einem Wagen mit getönten Scheiben werden wir durch die Straßen gefahren, der Zug wartet schon. Wir haben kaum Zeit, um uns von Cinna und Portia zu verabschieden; in ein paar Monaten werden wir sie wiedersehen, auf unserer Tour durch die Distrikte zu den Siegesfeiern, mit denen das Kapitol die Leute daran erinnert, dass die Hungerspiele nie ganz vorbei sind. Wir werden eine Menge nutzloser Plaketten umgehängt bekommen und alle müssen so tun, als fänden sie uns großartig.
Der Zug fährt los und wir tauchen in die Nacht des Tunnels ein. Erst als er hinter uns liegt, tue ich meinen ersten Atemzug in Freiheit seit der Ernte. Effie begleitet uns nach Hause und Haymitch natürlich auch. Wir bekommen ein riesiges Abendessen und setzen uns schweigend vor den Fernseher, um uns die Wiederholung des Interviews anzuschauen. Mit jeder Sekunde, in der wir uns vom Kapitol entfernen, denke ich mehr an zu Hause. An Prim und meine Mutter. An Gale. Ich ziehe mich zurück, um mein Kleid gegen ein schlichtes T-Shirt und eine Hose einzutauschen. Während ich langsam und gründlich das Make-up abwasche und mein Haar zu dem üblichen Zopf flechte, beginne ich mich in mich selbst zurückzuverwandeln. Katniss Everdeen. Ein Mädchen aus dem Saum. Das im Wald jagt. Auf dem Hob Geschäfte macht. Ich starre in den Spiegel und versuche mich zu erinnern, wer ich bin und wer ich nicht bin. Als ich mich wieder zu den anderen geselle, fühlt sich der Druck von Peetas Arm auf meiner Schulter fremd an.
Als der Zug kurz anhält, um aufzutanken, dürfen wir aussteigen und ein bisschen frische Luft schnappen. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, uns zu bewachen. Peeta und ich spazieren am Gleis entlang, Hand in Hand, aber jetzt, da wir allein sind, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Er bleibt stehen und pflückt mir einen Strauß Wildblumen. Als er sie mir überreicht, muss ich mich sehr anstrengen, erfreut auszusehen. Er kann ja nicht wissen, dass die rosa-weißen Blumen die Blüten wilder Zwiebeln sind und mich sofort an Gale erinnern, mit dem ich sie immer gesammelt habe.
Gale. Bei der Vorstellung, ihn in ein paar Stunden wiederzusehen, habe ich ein dumpfes Gefühl im Bauch. Warum nur? Ich komme zu keinem rechten Schluss. Ich weiß nur, dass ich mich fühle, als hätte ich einen Menschen belogen, der mir vertraut hat. Oder sogar zwei. Bis jetzt bin ich damit durchgekommen, wegen der Spiele. Aber zu Hause wird es keine Spiele geben, hinter denen ich mich verstecken kann.
»Was ist?«, fragt Peeta.
»Nichts«, sage ich. Wir gehen weiter, bis ans Ende des Zugs und noch weiter, wo selbst ich ziemlich sicher bin, dass in den kümmerlichen Sträuchern längs des Gleises keine Kameras versteckt sind. Aber die Worte wollen immer noch nicht kommen.
Ich zucke zusammen, als Haymitch mir die Hand auf den Rücken legt. Selbst jetzt, in diesem Niemandsland, spricht er mit gedämpfter Stimme. »Gute Arbeit, ihr beiden. Macht im Distrikt so weiter, bis die Kameras weg sind. Dann müssten wir durch sein.« Ich schaue ihm nach, als er zum Zug zurückgeht, und meide Peetas Blick.
»Was hat er damit gemeint?«, fragt Peeta.
»Das Kapitol. Der Trick mit den Beeren hat ihnen nicht besonders gefallen«, platze ich heraus.
»Was? Wovon redest du?«, fragt er.
»Das war zu aufsässig. Deshalb hat Haymitch mich in den vergangenen Tagen gecoacht. Damit ich es nicht noch schlimmer mache«, sage ich.
»Dich gecoacht? Mich aber nicht«, sagt Peeta.
»Er wusste, dass du clever genug bist und schon alles richtig machen würdest«, sage ich.
»Aber ich wusste doch gar nicht, dass da etwas war, das man richtig machen könnte«, sagt Peeta. »Du willst mir also sagen, die letzten Tage und wahrscheinlich auch ... in der Arena ... Das alles war nur eine Strategie, die ihr beide ausgeklügelt habt?«
»Nein. In der Arena konnte ich doch gar nicht mit ihm sprechen, oder?«, stammele ich.
»Aber du wusstest, was er von dir erwartet, nicht wahr?«, sagt Peeta. Ich beiße mir auf die Lippen. »Katniss?« Er lässt meine Hand los und ich mache einen Schritt seitwärts, als müsste ich das Gleichgewicht halten.
»Es ging nur um die Spiele«, sagt Peeta. »Alles, was du getan hast.«
»Nicht alles«, sage ich und klammere mich an meine Blumen.
»Und wie viel, bitte sehr? Oder nein, vergiss es. Die eigentliche Frage ist doch, was davon übrig bleibt, wenn wir nach Hause kommen«, sagt er.
»Ich weiß nicht. Je mehr wir uns Distrikt 12 nähern, desto verwirrter bin ich«, sage ich. Er wartet auf weitere Erklärungen, aber es kommen keine.
»Na, dann sag Bescheid, wenn du es rausgefunden hast«, sagt er. Der Schmerz in seiner Stimme ist fast greifbar.
Jetzt weiß ich auch endgültig, dass meine Ohren wiederhergestellt sind, denn trotz des lärmenden Dieselmotors höre ich jeden seiner Schritte zurück zum Zug. Als ich wieder einsteige, hat Peeta sich schon in sein Abteil zurückgezogen. Auch am nächsten Morgen sehe ich ihn nicht. Als er sich das nächste Mal blicken lässt, fahren wir schon durch Distrikt 12. Er nickt mir zu, seine Miene ist ausdruckslos.
Ich würde ihm gern sagen, dass das nicht gerecht ist. Dass wir Fremde waren. Dass ich alles getan habe, um zu überleben, damit wir beide in der Arena überleben. Dass ich nicht erklären kann, wie ich zu Gale stehe, weil ich es selbst nicht weiß. Dass es keinen Sinn hat, mich zu lieben, weil ich sowieso niemals heiraten werde und er mich irgendwann nur hassen würde. Dass es nicht entscheidend ist, ob ich etwas für ihn empfinde oder nicht, weil ich niemals zu einer solchen Liebe fähig sein werde, die zu einer Familie und Kindern führt. Und er? Wie kann er das, nach allem, was wir durchgemacht haben?
Ich würde ihm auch gern sagen, wie sehr ich ihn jetzt schon vermisse. Aber das wäre nicht fair.
Also stehen wir schweigend da und sehen zu, wie wir in unseren schmuddeligen kleinen Bahnhof einfahren. Durchs Fenster sehe ich, dass überall auf dem Bahnsteig Kameras aufgebaut sind. Sie können es alle kaum erwarten, unsere Heimkehr zu sehen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Peeta die Hand ausstreckt. Unsicher schaue ich ihn an. »Noch einmal? Für die Zuschauer?«, sagt er und er klingt nicht wütend. Er klingt hohl und das ist noch viel schlimmer. Schon entgleitet mir der Junge mit dem Brot.
Ich ergreife seine Hand und halte sie fest, wappne mich für die Kameras und fürchte mich schon vor dem Moment, wenn ich sie wieder loslassen muss.
ENDE DES ERSTEN BUCHES